Can-Gründer Holger Czukay erlebte seinen 80. Geburtstag nicht mehr, aber wir können ihn trotzdem feiern! Ein liebevoll kuratiertes Boxset würdigt das Solo-Werk eines Pop-Genies, das die Masse nie entdeckte.
Can zählen bis heute zu den wichtigsten Gruppen der Pop- und Rockgeschichte - nur leider weiß das in ihrem Herkunftsland Deutschland bedauerlicherweise noch immer so gut wie niemand. Oder, wie unser neuer Heimatminister womöglich ausdrücken würde: "Can gehört nicht zu Deutschland." Holger Czukay spielte in dieser alle Genres sprengenden Band Bassgitarre, war aber außerdem ein seit den Sechzigerjahren begnadeter Tape-Bastler.
Nach gut einem Jahrzehnt des Schaffens mit vier personellen Reinkarnationen lösten Can sich Ende der Siebziger auf, Mitte der Achtzigerjahre fanden sie jedoch noch einmal in ihrer Erstbesetzung zusammen, um ein letztes gemeinsames Album aufzunehmen. Czukay brachte allerdings gleich nach der ersten Auflösung der Band sein fulminantes Soloalbum heraus: "Movies". Im Grunde hätte er diese Platte locker auch als Can-Album veröffentlichen können, denn sowohl Can-Drummer Jaki Liebezeit als auch Keyboarder Irmin Schmidt sowie Gitarrist Michael Karoli sind in Czukays Sample-Sinfonien unverkennbar zu hören.
Da die Gruppe in nur einem Jahrzehnt immerhin dreimal den Sänger wechselte, wäre eine vierte Phase mit Czukay als Frontmann durchaus logisch gewesen. Doch jeder weiß: Band-Ehen sind kompliziert! Und obwohl "Movies" mit "Cool In The Pool" einen echten Novelty-Hit von der Kragenweite "Da-Da-Da", "Flat Beat" oder "They're Coming To Take Me Away, Ha-Haaa!" enthielt, blieb Czukay auch solo von Anfang an ein Nischenthema.
Dennoch wird sich kaum ein einflussreicher Popmusiker auf Erden finden lassen, der nicht gleich ehrfürchtig auf die Knie geht, wenn er die Namen Holger Czukay oder Can vernimmt. Das breite Publikum da draußen wird jedoch auch heute noch ahnungslos mit den Achseln zucken. Ob die jetzt pünktlich zu seinem 80. Geburtstag erscheinende Werkschau "Cinema" - an der Czukay noch bis zu seinem Tod im September vorigen Jahres mitwirkte - an dieser öffentlichen Wahrnehmung etwas ändern wird, muss leider stark bezweifelt werden.
Ein Glück, dass wenigstens die Kulturschaffenden und Musikliebhaber das Kunsterbe von Generation zu Generation weitertragen. In dieser Hinsicht ist es dem ansonsten eher durch Radio-Pop bekannten Grönemeyer-Label Grönland Records nicht hoch genug anzurechnen, dass sich das Team um die Produktmanagerin Mareike Hettler seit Jahren so liebevoll auch um das Erbe weniger beachteter deutscher Popkultur - von NEU! über Cluster bis Czukay - sorgt.
Für das Zusammenstellen des "Cinema"-Boxsets konnte Grönland den Musiker, Künstler, Autor und Designdozenten Hendrik Otremba von der Band Messer gewinnen, der eine gelungene Auswahl traf. Er versammelt eine bis dato unveröffentlichte Jazzaufnahme von 1960 ebenso wie Soundschleifen aus dem Album "Canaxis" (1969).
Es gibt die Geisterbahnfahrer-EP "Les Vampyrettes" mit Conny Plank, Kollaborationen mit prominenten Fans von der Pop-Insel Großbritannien, darunter Brian Eno oder PiL-Bassist Jah Wobble (Kein PiL ohne Can!), ein spätes, ebenfalls unveröffentlichtes Stück mit Stockhausen und viele Highlights aus Czukays Soloalben nach Can: alles schön "on the way to the peak of normal", wie er seine dritte Platte 1981 schelmisch nannte.
"Cinema" scheint als Werktitel nur folgerichtig, klangen Czukay und Can doch schon immer wie ein experimentierfreudiger Soundtrack, egal, ob es nun einen Film oder keinen zu ihrer Musik gab. Ein bisschen schade ist nur, dass die Box gänzlich ohne Credits ausgeliefert wird. Es gibt sehenswerte Fotos und sensible wie kenntnisreiche Liner-Notes fürs Sammlerherz, aber es wird leider nicht aufgelistet, wer bei welchem Stück zwischen 1960 und 2014 welches Instrument spielte, wer die Aufnahmetaste drückte und so weiter. Natürlich ließe sich dies - zumindest bei den überwiegend bereits veröffentlichten Stücken - heute mühelos bei Discogs nachlesen, aber wenn doch schon extra ein paar Bäume für die Booklets gefällt wurden...
Dann hätte man nämlich nachlesen können, dass es allein durch den leider ebenfalls 2017 verstorbenen Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit eine ziemliche Konstante auf den hier vorliegenden Aufnahmen gibt.
Eine Randnotiz: Was den deutschen Mainstream angeht, so hat es Liebezeit als Musiker mit "Goldener Reiter" von Joachim Witt bis in die Schützenfestzelte der westfälischen Provinz hinein geschafft, während Czukay-Songs wie "The Photo Song" oder "Hey Baba Rebob" weder im Radio noch in den Kneipen-Jukeboxen gespielt wurden.
Zudem hat bis heute weder ein Tarantino noch die Coen-Brüder Czukays Songs für einen ihrer Soundtracks auserkoren, um so der Masse wenigstens im Nachhinein zu zeigen, was die Lieder für Fans schon immer waren: funkelnde musikalische Edelsteine! Immerhin sampelte Kanye West auf "The Life Of Pablo" im Song "Drunk and Hot Girls (feat. Mos Def)" den Can-Song "Sing Swan Song" aus dem Jahre 1972. Eine dedication von Sample-Pionier zu Sample-Pionier!
Holger Czukay brachte seinen Platz in der Popkultur zwischen Kunstanspruch und Massenmedium selbst wunderbar selbstironisch auf den Punkt: "Hit Hit Flop Flop", heißt ein zentrales Stück auf dem Album "Rome Remains Rome" von 1987. Dieser Song bringt sowohl Czukays Willen, einen Hit zu schreiben, als auch sein virtuoses Scheitern am ordinären Format des Popsongs wunderbar zum Ausdruck.
Wie passend daher, dass sich eine Vinylsingle in der Box befindet, die das Video zu "Cool In The Pool" enthält. Vermutlich wird aber kaum jemand diese Platte abtasten lassen, weil man dafür extra einen teuren Wandler erwerben müsste. Schöne Idee, kunstvoll am Markt vorbei gewirtschaftet.
Es liegt der Box aber auch noch der Fernsehfilm "Krieg der Töne" (1987) als marktkompatible DVD bei, in dem Czukay sich selbst spielt: ein Künstler zwischen Broterwerb als Klavierlehrer und Session-Musiker. Darin spielt der psychedelische Gentleman sein eigenes Studiomaterial der alten Plattenfirmenchefin vor, die mal wieder den Hit für die Massen vermisst. Czukay hätte rückblickend vielleicht einfach populärere Instrumente als das Waldhorn oder Diktaphon für seine Soloalben aussuchen sollen.
"Musik hat immer etwas Absolutes"
Nur wenige Wochen vor Czukay starb vergangenes Jahr leider auch seine Frau und musikalische Kollaborateurin Ursula Schüring. Es liegt daher nun an uns, Czukays kostbares Vermächtnis nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Quelle: spiegel.de/kultur
"Wir haben erst mal alles vergessen, was wir bei Stockhausen gelernt haben!" Diesen Satz wiederholte Holger Czukay stets über seinen berühmten Lehrer, wenn Journalisten nach dem Einfluss der "Kölner Kurse für neue Musik" auf Czukays Band Can fragten.Holger Czukay - Cinema (Deluxe 5CD+DVD Retrospective Boxset)
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Holger Czukay - Cinema (Deluxe 5CD+DVD Retrospective Boxset)
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